„Muttermilch ist überlebenswichtig“
Zur Tradition der Frauenmilchbank in Leipzig
Kinder, die plötzlich viel zu früh geboren werden, benötigen für nahezu alle wichtigen Organsysteme sofort medizinische Hilfe, wie beispielsweise eine Atemunterstützung zur besseren Belüftung der Lunge oder die Pflege im Inkubator als Wärmeschutz. Dass bei den zu früh geborenen Kindern auch die Versorgung mit Nahrung eine absolute medizinische Notfallsituation darstellt, ist heute unumstritten. „Muttermilch ist für diese Kinder nicht nur Ernährung, sondern sogar überlebenswichtig“, erklärt Dr. Corinna Gebauer, Oberärztin der Neonatologie am Universitätsklinikum Leipzig. Neben Nährstoffen enthält Muttermilch hundert weitere Inhaltsstoffe, unter anderem Hormone, die das Verdauungssystem reifen lassen, Enzyme, die die Nahrungsverträglichkeit fördern oder präbiotische Moleküle und probiotische Bakterien. „Diese einzigartige Mischung in der menschlichen Milch schützt die Kinder in der kritischen Phase nach Geburt vor Infektionen, Sepsis und nekrotisierender Enterokolitis (Erkrankung des Darmes), hat zudem langfristig positive Effekte auf die neurologische Entwicklung und stellt einen Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen im späteren Leben dar“, so die Medizinerin.
Doch nicht immer gelingt es Müttern in den ersten Tagen nach der Frühgeburt Milch für ihr Kind abzugeben. Als beste Alternative wird für diesen Fall gespendete Frauenmilch aus einer Frauenmilchbank empfohlen. „Allerdings haben selbst in Deutschland nicht alle Frühgeborenen die Möglichkeit, gespendete Frauenmilch zu erhalten, da nicht alle Perinatalzentren über eine Frauenmilchbank verfügen. Der Grund hierfür ist in der Zeit der 1970er Jahre begründet. Damals wurden in der damaligen BRD u.a. aus Furcht vor übertragbaren Infektionen, ökonomischen Gesichtspunkten und der Favorisierung von künstlicher Säuglingsnahrung alle Frauenmilchbanken geschlossen“, erklärt Dr. Corinna Gebauer in ihrer Funktion als ärztliche Leiterin der Frauenmilchbank Leipzig. Hingegen hatten in der damaligen DDR die Milchbanken weiterhin Bestand, womit sich die heute bestehenden regionalen Unterschiede mit einer hohen Dichte an Frauenmilchbanken in den östlichen Bundesländern erklären lassen.
Die Frauenmilchbank in Leipzig
Die Erkenntnis, dass in der Therapie von Frühgeborenen gespendete Frauenmilch aus einer Frauenmilchbank die beste Alternative zu Muttermilch darstellt, hat zu einer stetigen Verbreitung von Frauenmilchbanken in ganz Deutschland geführt. So sind in den letzten fünf Jahren zahlreiche neue Milchbanken auch in den westlichen Bundesländern entstanden.
In der Kinderklinik des Universitätsklinikums Leipzig hat die Ernährung von Frühgeborenen und kranken Neugeborenen mit gespendeter Frauenmilch eine lange Tradition. Die Milch aus der Frauenmilchbank hilft seit 1951 beim Nahrungsaufbau oder zur Nahrungsergänzung bis die eigene Muttermilch ausreichend ist.
„Insgesamt stehen jährlich rund 1000 Liter gespendete Frauenmilch zur Verfügung. Die gespendete Milch deckt den Bedarf im eigenen Klinikum vollständig ab und hilft gleichzeitig auch bedürftigen Kindern in anderen Kliniken über kritische Phasen in der Ernährung hinweg“, erklärt Dr. Corinna Gebauer. Eine Besonderheit in der Neonatologie der Uni-Klinik Leipzig ist die seit Jahrzehnten praktizierte Gabe von roher, nicht pasteurisierter Frauenmilch an die besonders kleinen Frühgeborenen mit einem Gewicht unter 1000 Gramm. „Die rohe Milch besitzt noch ihre volle biologische Aktivität, da durch den Pasteurisiervorgang bestimmte Inhaltsstoffe zerstört oder vermindert werden“, so Gebauer weiter.
Stillberatung für Mütter
Das vorrangige Ziel ist es, alle Frühgeborenen und kranken Neugeborenen mit der Milch der eigenen Mutter zu ernähren und auch bei Entlassung aus der Neonatologie möglichst vollständig mit Muttermilch zu versorgen. Hierfür ist eine kontinuierliche Unterstützung und Anleitung der Mütter bis zur Entlassung unbedingt erforderlich. „Da die sehr kleinen Frühgeborenen anfangs nicht direkt aus der Brust trinken können, ist für die Mütter das Abpumpen der Muttermilch zur Anregung der Milchproduktion und zur Aufrechterhaltung der Laktation für viele Wochen notwendig. Meist bedarf es einer besonderen und intensiven Unterstützung, bis die Kinder das direkte Stillen erfolgreich bewältigen“, erklärt die Oberärztin.
Ein Team aus insgesamt sechs ausgebildeten Still- und Laktationsberaterinnen geht diese Herausforderung gemeinsam mit dem Team der Neonatologie des Uni-Klinikums Leipzig an. Die Einführung von regelmäßigen sogenannten „Stilltagen“, an denen eine Stillberaterin den gesamten Tag nur für die Fragen und Probleme der Mütter zur Verfügung steht, ist eine wichtige Säule des neuen Konzeptes am Uniklinikum Leipzig. „Der Erfolg ist an einem höheren Anteil von gestillten oder mit Muttermilch ernährten Kindern bei Entlassung direkt ablesbar. Indirekt sichtbar sind auch die Auswirkungen auf die Menge an gespendeter Frauenmilch“, so Gebauer. Etwa die Hälfte der Frauenmilchspenderinnen der Frauenmilchbank Leipzig sind Mütter von Frühgeborenen oder kranken Neugeborenen, die auf der neonatologischen Station behandelt wurden.
Die Erklärung ist einfach: Je mehr Mütter erfolgreich für ihr eigenes Kind Milch zur Verfügung haben, desto mehr Spenderinnenmilch kann anderen Kindern in Notsituationen zu Teil werden. Die sogenannte Preterm-Milch, also Milch (aus den ersten vier Wochen nach Geburt) von Müttern mit selbst einem frühgeborenen Kind, ist besonders auf die Bedürfnisse von kleinen Frühgeborenen abgestimmt, da sie vor allem mehr schützende Antikörper und mehr Eiweiß enthält.
„Meinem Kind wurde auch in den ersten Tagen, als ich noch keine eigene Muttermilch hatte, mit gespendeter Frauenmilch geholfen“, lautet einer der häufigsten Beweggründe, die Frauenmilchspenderinnen zu großen Helferinnen werden lassen.
Dr. Corinna Gebauer hat ihr Studium der der Humanmedizin an der Universität Leipzig zwischen 1993 und 2000 absolviert und ihre Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin an der Kinderklinik des Universitätsklinikums Leipzig direkt angeschlossen. Seit 2002 ist sie auf der neonatologischen Intensivstation tätig.
Dr. Corinna Gebauer ist Gründungsmitglied und Board Member der European Milk Bank Association (EMBA) und bereits seit dem Jahr 2007 ärztliche Leiterin der Frauenmilchbank Leipzig.
Nachgehakt, Frau Dr. Gebauer!
Worin liegt die besondere Bedeutung von Muttermilch im Gegensatz zu künstlicher Nahrung?
„Die künstliche Ernährung (Formulanahrung) wird niemals die einzigartige Zusammensetzung der menschlichen Milch (Frauenmilch) erreichen können. Neben den Makronährstoffen Eiweiß, Kohlehydrate und Fett, die allen bekannt sind, enthält menschliche Milch noch viele hundert weitere Bestandteile, Zellen und bioaktive Moleküle, die den kindlichen Organismus vor Infektionen und Entzündungen schützen, die zur Reifung des Immunsystems und der Organentwicklung, v.a. auch des Magen-Darmtraktes beitragen, die zu einer gesunden mikrobiellen Besiedelung führen und zusätzlich langfristig positive Effekte auf, beispielsweise die neurologische Entwicklung und das Herz-Kreislaufsystem haben.“
Wo sehen Sie die Bedeutung von Frauenmilch in zehn Jahren?
„Alle Kinder müssen die Möglichkeit haben mit humaner Milch ernährt werden zu können, v.a. in besonderen Umständen wie Frühgeburtlichkeit, bei angeborenen Erkrankungen oder unter schwierigen Bedingungen in Ländern mit niedrigem Lebensstandard. Humane Milch hat den größten Einfluss auf das Überleben im Säuglingsalter. Hierfür muss die Ernährung mit Muttermilch oberste Priorität haben. Die Ermutigung und Unterstützung von Müttern zum Stillen muss nicht nur in der kurzen Zeit nach Geburt in der Klinik, sondern auch durch das Gesundheitssystem und die Öffentlichkeit erfolgen. Für kranke Neugeborene und Frühgeborene ist die Ernährung mit humaner Milch überlebenswichtig. Erhalten diese Kinder keine oder nicht ausreichend Muttermilch, muss die gespendete Frauenmilch aus etablierten Frauenmilchbanken die erste Alternative sein und auch flächendeckend zur Verfügung stehen. Das ist heute nur in wenigen Ländern möglich, ließe sich aber für Deutschland innerhalb der nächsten zehn Jahre umsetzen.“
European Milk Bank Association (EMBA)
Die EMBA wurde im Oktober 2010 in Mailand gegründet. Vorrangige Ziele sind die Förderung von Stillen und der Ernährung mit Muttermilch, die Förderung und Unterstützung von Frauenmilchbanken innerhalb Europas und die europäische Zusammenarbeit bei Forschungsprojekten in Bezug auf Frauenmilch oder Frauenmilchbanken.
Daneben arbeiten Expertengruppen an der Erstellung von europäischen Empfehlungen für die Arbeitsabläufe in Frauenmilchbanken nach aktuellem Stand der Forschung, an der Optimierung der Anreicherungsmethoden von Frauenmilch, den sogenannten Frauenmilchsupplementen oder auch an neuen Methoden zur Virus- und Erregerinaktivierung in der Frauenmilch. Regelmäßige internationale wissenschaftliche Kongresse der EMBA, wissenschaftliche Publikationen und die Internetseite der EMBA machen das Wissen um Frauenmilch und Frauenmilchbanken einem breiteren Publikum zugänglich.