Als Frühgeboren gilt ein Kind, wenn es vor 37 Schwangerschaftswochen auf die Welt kommt. Geschieht dies beispielsweise bereits nach 24 Schwangerschaftswochen, dann ist der gesamte Organismus noch nicht auf die Lebensbedingungen außerhalb des Mutterleibes eingestellt. Natürliche Prozesse wie das Atmen sind noch nicht ausgereift, die entscheidenden Organe noch nicht für Ihre Funktion vorgesehen. Ein solches Kind wiegt mit 300 bis 400 Gramm nur wenig mehr als ein Päckchen Butter und ist mit manchmal nur 25 cm vergleichsweise gerade einmal so lang wie ein Kugelschreiber.

Eine Frühgeburt stellt einen Notfall im Bereich der Geburtsmedizin dar. Das Team einer neonatologischen Intensivstation ist fachlich und technisch bestens gerüstet – so auch in Lübeck. Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) wurde erst vor wenigen Wochen eine hochmoderne Geburtsstation mit neonatologischer Intensivstation errichtet.

„In jeder Schicht stehen wechselnde Expertenteams für die kleinen Patienten bereit. Jeder Farbton an der Wand, jedes medizinische Gerät wurde sorgfältig ausgewählt.“

 Dr. Pia Paul, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Schleswig-Holstein, Schwerpunkt Neonatologie

Jedem im Team ist bewusst: Jeder Handgriff, jede Entscheidung in den ersten Minuten des Lebens kann über körperliche und geistige Einschränkungen den gesamten weiteren Verlauf des Lebens bestimmen. „Diese besondere Notfallsituation stellt eine Herausforderung dar, die wie in vielen anderen Bereichen auch höchste Konzentration, Wissen und Erfahrung, aber auch eine effektive Kommunikation und Koordination dieser Stresssituation erfordert“, so Dr. Paul.
Solch eine Verantwortung wiegt schwer und aus völlig anderen Bereichen, wie zum Beispiel aus der Luft- und Raumfahrt, haben die Mediziner gelernt, dass nur regelmäßige Trainingseinheiten in derartigen Notfallsituationen Stress tatsächlich reduzieren, die Handlungsabläufe routinierter ablaufen lassen und die Sicherheit für die kleinen Patienten letztlich enorm steigern.

Optimales Training mittels hochmoderner Simulation

 

Mit einem Computerprogramm oder einer Fallbeschreibung auf dem Papier ruft man wenig Stress hervor. Ärzte und Pflegepersonal wissen in der Theorie sehr genau wie man vorgehen muss. Doch um erfahren zu werden, muss man viele solcher Notfälle erlebt haben und wird manchmal auch traurige Verläufe begleitet haben. In der Universitätskinderklinik Lübeck beschreitet man nun neue Wege: Eine Simulationspuppe wurde angeschafft, die einem realen Frühgeborenen täuschend echt nachempfunden ist. „Nicht nur Optik und haptischer Eindruck stimmen, auch die lebensecht nachempfundenen Funktionen, die die Puppe simulieren kann, versetzen das medizinische Team in die erforderliche realitätsnahe Stresssituation. Diese Puppe kann atmen, sich bewegen, weinen, hat aber auch ein täuschend echtes Innenleben, um bestimmte Handgriffe in den Atemwegen für Übende sichtbar zu machen“, erklärt die Medizinerin.

 

Simulationspuppe Paul ist einem realen Frühgeborenen täuschend echt nachempfunden.

„Übung macht den Meister“ besagt ein Sprichwort und so laufen regelmäßig in den echten Räumlichkeiten der Kinderklinik – in Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Berufsgruppen – folgende Szenen ab: Die Frühchenpuppe wird von einer Hebamme eilig aus dem Operationssaal zur Erstversorgung zu den Kinderärzten gebracht. Die Haut des Kindes ist dünn, es darf keine Wärme und Feuchtigkeit verlieren, zwei Kinderkrankenschwestern beginnen sofort das Kind mit einer speziellen Folie abzudecken und den Kreislauf mit gezielten Stimulationen in Gang zu halten. Die Atmung setzt nur vereinzelt ein und der Neonatologe muss sich rasch für eine der vielen technischen Unterstützungsmöglichkeiten entscheiden. Zarte Venen sind an den Händchen sichtbar, eine erfahrene Ärztin kümmert sich sofort um die Anlage eines Zugangs, damit lebenswichtige Medikamente gegeben werden können.
In diesen wenigen Minuten ist entscheidend wie gut das gesamte Team funktioniert und nach kurzer Zeit hebt und senkt die Puppe den Brustkorb, die bedrohlich bläuliche Hautfarbe hat in ein frisches rosiges Kolorit gewechselt und der inzwischen angeschlossene Monitor zeigt regelmäßige Herzfrequenzen. Das Lübecker Team atmet auf.
„Keiner hat in den vergangenen Minuten so agiert, als wäre das Kind nur eine Puppe. Jeder hat hochkonzentriert die kritische Situation empfunden, die auch bei der Erstversorgung eines ‚echten‘ Babies in der Luft liegt“, lautet das Fazit von Dr. Pia Paul.

Trainingseinheit mit der Simulationspuppe unter Realbedingungen mit Prof. Göpel

Im Nachgang gilt es für das Team sämtliche Schritte der Notfallsimulation nochmals durchzusprechen und zu analysieren. „Analyse bedeutet jedoch nicht Fehler um jeden Preis finden zu wollen, sondern auch Handlungsabläufe zu bestärken und die Teamkommunikation zu steigern“, weiß Dr. Paul.

Die hochmoderne Simulations-Puppe heißt übrigens nicht zufälligerweise Paul: Der Name bedeutet „der Kleine“ auf Latein. Paul besteht aus Silikon und ist detailgetreu einem Frühchen in der 27. Schwangerschaftswoche nachgebildet.
Der Kinderarzt Dr. Jens-Christian Schwindt hat den Simulator zusammen mit seinem Team der Firma SIMCharacters in Wien entwickelt. Seit knapp einem halben Jahr wird am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein am Campus Lübeck mit dieser Puppe trainiert und nach und nach zeigt sich, dass die Teilnehmer durch Übungsrealität der Puppe und Trainingsszenarien noch mehr Sicherheit und Expertise für ihren Alltag gewinnen.

In dem Perinatalzentrum Level 1 in Lübeck werden bei jährlich über 1600 Geburten ca. 85 Frühgeborene pro Jahr hier mit einem Gewicht unter 1500 Gramm betreut. Das Team um Klinikdirektor Professor Dr. Egbert Herting kann auf viele innovative Handlungskonzepte in der Patientenversorgung blicken. Die Verabreichung des wichtigen Medikamentes Surfactant beispielsweise, dass mit einer speziellen Technik direkt in die Atemwege eingebracht werden muss und für die kleinen Patienten überlebenswichtig sein kann, wird mit routinierten Handgriffen auch den unerfahrensten Mitgliedern im Team mittels der lebensechten Puppe Paul beigebracht. Ein Meilenstein in der Patientenversorgung. Die Routine muss nicht mehr ausschließlich am Patienten erlernt werden.

 

 

 

 

Klinikdirektor Professor Dr. Egbert Herting

Bild-/Textquelle: Uniklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck